Unternehmen wird derzeit suggeriert, dass sie ihr Geschäft bereits dann transformieren, wenn sie ihre Produkte nur elektronisch absetzen. Brillen, Medikamente oder Mode kauft man doch zukünftig nicht mehr beim Optiker, in der Apotheke oder in der Boutique; sie werden von Mister Spex, Doc Morris oder Zalando nach Hause geschickt. Wer gar aus physischen Produkten digitale macht, also Zeitungen in Apps verwandelt, Papiertickets in elektronische Barcodes umfunktioniert und die nette Dame aus dem Reisebüro durch eine Booking-Engine ersetzt, der ist – so die landläufige Meinung – bei der digitalen Transformation ganz vorn mit dabei.

Wer aber ein Unternehmen führt, das noch über die nächste Dekade hinaus erfolgreich agieren soll, kann nicht bei diesen Überlegungen stehen bleiben. Zwar ist der elektronische Handel und die Digitalisierung von Medienprodukten unaufhaltsam und damit für Unternehmen Pflicht, aber diese Schritte bedienen eben nur die aktuelle Situation. Sie sind nur bedingt zukunftsgerichtet.

Anhand von Fluggesellschaften, Sehhilfen und Mode lässt sich beispielhaft skizzieren, wie weitreichend digitale Technologien das Verhalten von Menschen und die Funktionsweise von Märkten und Unternehmen aller Branchen künftig verändern können:

  • Fluggesellschaften: Die Gründe, weshalb wir mit dem Flugzeug reisen, sind vielfältig. Einen erheblichen Teil ihres Umsatzes machen Airlines jedoch mit Geschäftsreisenden. Doch werden wir im Jahr 2050 wirklich noch in ein Flugzeug steigen, um uns mit Geschäftspartnern zu treffen anstatt uns mit ihnen in dreidimensionalen Videokonferenzen auszutauschen? Die aktuell ausgelieferten Airbus A380 werden circa 2050 ausgemustert. Angesichts einer solchen Investitionsdauer, muss sich der Vorstand einer Fluggesellschaft nicht bereits heute Gedanken machen, wie sich sein Geschäft in den nächsten Dekaden ändern wird?
  • Sehhilfen: Ähnlich kurz gedacht erscheint der Wettlauf im eCommerce für Sehhilfen. Lesen und Autofahren zählen zu den wichtigsten Gründen, eine Brille oder Kontaktlinsen zu tragen. Was ist jedoch, wenn das Wort nicht mehr gedruckt ist, sondern auf einem Display angezeigt wird, das die Sehstärke messen und den Text entsprechen anpassen kann? Und wenn selbstfahrende Autos massentauglich werden, womit verdienen Optiker dann ihr Geld?
  • Mode: Kleidung wird in Zukunft vielleicht direkt vom Designer on demand oder auf dem 3D-Drucker zu Hause maßgeschneidert gefertigt – nachdem Konsumenten sie in virtuellen Räumen mit ihrer digital vorhandenen Garderobe abgeglichen haben. Wozu brauchen wir dann noch Einkaufszentren, Boutiquen und deren Online-Shops?

Diese skizzierten Szenarien sind keine Zukunftsutopien – 2050 beginnt in knapp 35 Jahren – und sie zeigen: Eine erfolgreiche digitale Transformation beschränkt sich nicht darauf, einzelne Geschäftsprozesse zu digitalisieren. Sie bedeutet, dass Unternehmen – und ihre Lieferketten – sich ganzheitlich und im Sinne der Kunden klar werden müssen, wie sich die Welt, die Konsumenten und damit ihre gesamte Wertschöpfungskette verändert.

Warum aber hören wir nicht von Investitionen in Virtual-Meeting-Technologien bei Fluggesellschaften? Oder von der Forschung an intelligenten Displaytechnologien bei Optikern? Oder von anderen, wirklich richtungsweisenden Transformationsansätzen?

In den meisten Fällen sind die Entscheidungsgremien einerseits zu kurzfristig orientiert und andererseits falsch besetzt. Klar ist: Der Vorstand eines Unternehmens beschäftigt sich primär mit dem aktuellen Geschäft. Er muss sich am Ertrag und Börsenwert messen lassen und nicht zuletzt den Aktionären gerecht werden, die ihre aktuellen, kurzfristigen Gewinne höher bewerten als Investitionen in eine Zukunft, die in 2050 liegt.

Dieser Umstand befreit die Lenkungsgremien von Unternehmen – und auch die Investoren – jedoch nicht von ihrer Verpflichtung, für eine erfolgreiche Zukunft zu sorgen. Sie müssen sicherstellen, dass die notwendigen und vielleicht auch schmerzhaften Schritte in Richtung erfolgreiche Transformation nicht von Vorstandsgeneration zu Vorstandsgeneration weitergegeben werden, wie die Staatsverschuldung von Regierung zu Regierung. Sie müssen sich klar zur Zukunft bekennen und den Wandel anstoßen – ohne dabei das aktuelle Geschäft aus den Augen zu verlieren. Dafür benötigen sie in ihren Gremien Führungskräfte, die sich mit der Zukunft ihrer Märkte befassen und die gesamte Organisation behutsam in eine Richtung entwickeln, die für die Transformation bereit ist.

So wie Daimler. Das Unternehmen scheint die Zukunftsfähigkeit seines Geschäftszwecks – persönliche Mobilität – kritisch analysiert zu haben. Es stellt sich aktiv die Frage, wie Mobilität in Zukunft gelebt wird und akzeptiert dabei, dass das eigene Auto als Statussymbol und Transportmittel erster Wahl vielleicht nicht mehr lange die Norm sein wird. Investitionen wie in Tesla, car2go, MyTaxi, Blacklane und moovel zeigen, dass sich Daimler über zukunftsfähige, digitale Modelle Gedanken macht, die weiterhin mit seiner Kernkompetenz in Einklang stehen und die Shareholder bereits heute zufriedenstellen. Und die das Unternehmen in einer Zukunft, in der die PKW-Verkaufszahlen voraussichtlich sinken, mutmaßlich besser dastehen lassen als die Wettbewerber, die sich bislang nur mit der Digitalisierung ihres Marketings und Vertriebs beschäftigen.

Daimler ist jedoch noch eines der wenigen Beispiele für Unternehmen, die über echte digitale Transformation nachdenken. Tatsächlich lassen sich derzeit nur sehr wenige Unternehmen finden, die sich dem Thema auf Führungsebene so konsequent widmen. Die meisten wachen erst dann auf, wenn ihr Markt bereits massiv angegriffen wird. Dann ist es oftmals zu spät – siehe Financial Times Deutschland, Data Becker- oder Weltbild-Verlag. Ein Online-Shop, eine App oder ein ePaper können dann auch nicht mehr retten.

 

Dieser Beitrag wurde zuerst in Wirtschaftswoche, Ausgabe 14/2014 veröffentlicht.