Frau Frank, sie sagen, eine Vielzahl an Führungsdefinitionen sind nicht mehr für das digitale Zeitalter verwendbar. Können Sie bitte kurz erklären, warum das so ist?

Ja, sehr gerne. Die Veränderungen in der Arbeitswelt führen meiner Meinung nach dazu, dass die alten Führungsdefinitionen einfach nicht mehr zum neuen Verständnis passen. Der Mitarbeiter ist heute viel mehr eine eigenständige Fachkraft und nicht mehr nur das “Rädchen im System”, das Anweisungen der Führungskräfte befolgt. Die Mitarbeiter wollen in die Entscheidungen mit einbezogen werden und ihre eigenen Ideen einbringen. Diese Veränderungen müssen von den Führungskräften beachtet werden. Sie sollen schließlich ökonomisch handeln und die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens sichern. Ich denke, man muss diese Veränderungen – vor allem vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der aktuellen Situation auf dem Arbeitsmarkt – noch viel stärker in das ökonomische Handeln mit einbeziehen. Fragen, wie z. B. “Wie sieht der Arbeitsmarkt im Moment auf dem Gebiet aus, in dem ich nach Mitarbeiter suche? Wie wird sich dieser Bereich entwickeln?” Und es muss vielen Unternehmen mehr bewusst werden, dass gute Fachkräfte der Wettbewerbsfaktor Nr. 1 sind. Jedoch sind diese rar – vor allem im MINT-Bereich oder in “neuen” digitalen Bereichen, wie z. B. User Experience oder erfahrene Product Owner. Das merken wir auch.

Möchten Sie uns dazu mehr erzählen?

Ein Arbeitnehmer, der schon Erfahrungswissen zu digitalen Themen oder Produkten mitbringt– was noch nicht so viele besitzen, weil die digitalen Themen noch nicht so lange und in allen Unternehmensgrößen vertreten sind – kann sich aktuell seinen Arbeitgeber aussuchen. Daher müssen seitens der Unternehmen und der Führungskräfte die raren, fachlich gut ausgebildeten und erfahrenen Mitarbeiter, genau wie Kunden, “umworben” werden. Hat ein Unternehmen diese tollen Mitarbeiter gewonnen, sollen sie natürlich nicht nach einem halben Jahr das Unternehmen wieder verlassen. Es muss eine Bindung, vor allem Vertrauen, aufgebaut, Wertschätzung gezeigt und den Mitarbeitern die Freiheit geboten werden, die sie sich wünschen. Diese Aspekte sind unglaublich wichtig und deshalb muss sich das Führungsverständnis ändern. Die Führungskraft ist heute vielmehr jemand, der die optimalen Rahmenbedingungen für seine Mitarbeiter schafft, ein Umfeld, in dem sich die Mitarbeiter wohlfühlen, ihre Stärken ausleben und nutzbringend für das Unternehmen einbringen können.

Das dauert aber doch sicher, bis das in den Köpfen angekommen ist?

Ja, das dauert. Viele Unternehmen wissen das und nehmen das neue Führungsverständnis an. Aber wenn dann Einstellungsgespräche stattfinden, merkt man auch: Das ist leider nur “oberflächlich” angekommen, aber es hat noch nicht den Kern erreicht. Die 4+1-Woche – also vier Tage im Büro und einer im Home Office – wird zum Beispiel noch nicht gerne angeboten.

Welche Rolle spielen die Digital Natives beim Wandel des Führungsverständnisses?

Eine entscheidende. Sie werden stark umworben, weil sie die erste Generation sind, die mit der digitalen Technik groß geworden ist. Viele Unternehmen brennen darauf, sich Digital Natives und damit das Digitalwissen ins Haus zu holen. Wobei ich hier betonen möchte, dass auch andere Generationen über dieses Wissen und das agile Mindset verfügen können! Nur weil jemand Digital Native ist, muss er nicht über eine agile Einstellung verfügen oder das erhoffte grundlegende Technikverständnis mitbringen. Auch ältere Generationen können ein “digitales Mindset” haben oder entwickeln. Es ist klar ersichtlich, dass viele es als Befreiung erleben, agil tätig zu sein. Die ellenlangen Abstimmungswege über diverse Hierarchiestufen, feste Prozesse ohne Handlungsfreiraum und sonstige Restriktionen haben es ihnen bisher nicht ermöglicht, sich dementsprechend bewegen zu können und sie sind froh, dass sich die Arbeitswelt verändert. Was aber unbestritten ist: Die Digital Natives bringen ein ganz anderes Verständnis für die Arbeitswelt mit. Sie möchten Karriere machen und dies mit Familie verbinden können. Sie fragen vielleicht schon nach zwei Jahren nach einem Sabbatical, möchten das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun. Diese Einstellung ist nicht wirklich gut mit klassischen Hierarchien vereinbar. Der Respekt wird nicht mehr durch einen Titel, die organisatorische Eingliederung ins Unternehmen oder die Dauer der Betriebszugehörigkeit gewährt. Sondern vielmehr durch eine Vorbildfunktion, z. B. durch offenes und authentisches Handeln, visionäre und begeisternde Fähigkeiten. Das ist das, was heute den Respekt ausmacht – und nicht mehr das Vorzimmer mit Sekretärin, der Firmenwagen oder die 30 Jahre Zugehörigkeit zum Unternehmen.

Das führt an manchen Stellen sicher zu interessanten Konflikten…

Natürlich führt dies zu Konflikten und das ist meines Erachtens auch gut so. Diese Konflikte zeigen, was jetzt wichtig ist: Es ist das agile Denken, auf das es ankommt. Unsere Umwelt wandelt sich so schnell, dass immer wieder regelmäßig alle Entscheidungen und Meinungen hinterfragt werden müssen. Das, was gestern richtig war, kann heute schon falsch sein. Eine Führungskraft muss immer wieder prüfen: Habe ich das richtige Ziel und das richtige Konzept? Sind die Prozesse noch optimal, sind die richtigen Mitarbeiter am richtigen Platz? Ein “Das haben wir aber schon immer so gemacht” ist heute wirklich ein absolutes K.O.-Kriterium für jedes Unternehmen.

Heißt das nicht auch, das eigene Wissen zu hinterfragen – und es immer wieder zu ergänzen?  

Es ist ein absolutes Muss sich weiterzubilden. Wir müssen uns mit unseren Kompetenzen an die Dynamik anpassen. Studiengänge, die nebenberuflich machbar sind, werden zur Normalität werden, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. So wie das Unternehmen sich auch anpassen und agil sein muss, so müssen wir es eben auch sein.

Haben digitale Führungskräfte darin auch eine Vorbildfunktion?

Es ist es ganz klar, dass die Führungskraft als Vorbild vorangehen muss. Wir lernen ja schon als Kleinkind durch Nachahmung. Ein Vorbild ist das, was uns am meisten zum Lernen bewegt. Wenn es ein Vorbild gibt, jemand, der sich weiterbildet und dadurch immer mehr Zusammenhänge erkennt und versteht, kann ein unglaublicher Ansporn dafür sein, selbst aktiv zu werden.

Und daraus ergibt sich dann wieder der Respekt, von dem Sie eben sprachen.

Ganz genau. Ich finde darüber hinaus, dass eine Führungskraft sich dafür einsetzen muss, dass vom Unternehmen diese Weiterentwicklung auch tatsächlich angeboten wird oder zumindest unterstützt. Die Führungskraft nimmt zunehmend eine coachende Rolle ein. Eine Weiterentwicklungsmöglichkeit zu haben und nicht immer auf der Stelle stehen zu bleiben, gehört wie erwähnt zu den optimalen Rahmenbedingungen, die vor allem die agilen Mitarbeiter und die neuen Generationen fordern.

Das ist sicher auch für einige, beispielsweise kleinere Unternehmen nicht einfach, da den Wettbewerb mit den Großen mit den großen Budgets zu bestehen?

Ja, das verschärft die Wettbewerbssituation ungemein. Die gut ausgebildeten Fachkräfte mit dem entsprechenden Mindset gehen gerne zu denen, die diese Möglichkeiten bieten. Wenn wir nach den Gehaltsvorstellungen der Kandidaten fragen, hören wir ganz oft: “Ganz ehrlich, das ist gerade nicht das Wichtigste. Für mich ist die neue Herausforderung das Wichtigste, etwas Neues zu lernen, kreativ zu sein, etwas Sinnvolles zu machen, Privat- und Berufsleben gut zu vereinbaren.” Das ist wirklich ein ganz interessanter Wandel.

Ihrer Auffassung nach spielt die Persönlichkeit der Führungskraft eine entscheidende Rolle. Warum ist das so?

Natürlich ist Fachwissen, gerade auch digitales Wissen und Erfahrungswissen, immer noch sehr wichtig. Es ist aber eher die Aufgabe der Fachkräfte, über dieses Fachwissen zu verfügen und es im Team bereit zu stellen. Die Führungskraft hingegen ist vielmehr mit einem Dirigenten vergleichbar. Sie stellt das Orchester optimal zusammen, damit das beste Klang- und Musikergebnis, in diesem Fall das beste Produkt oder die beste Serviceleistung, entsteht. Diese dirigierende Aufgabe ist in Zeiten ständigen Wandels enorm wichtig. Ebenso die visionäre Richtungsvorgabe: Wo soll es hingehen, was sind die Trends, wie halten wir unser Unternehmen wettbewerbsfähig? Und natürlich der eingangs erwähnte ökonomische Grundgedanke, den Mitarbeiter als wichtigen Wettbewerbsfaktor mit einzubeziehen. Und das auf dem persönlichen Weg über eine vertrauensvolle Beziehung. Beziehungsverhältnisse aufzubauen, zu pflegen und nachhaltig zu bewahren ist eine der Hauptaufgaben einer digitalen Führungskraft.

Eben all das, was nicht durch künstliche Intelligenz zu ersetzen ist?

Ja, ganz genau. Empathie ist gefragt. Ebenso auch, alles regelmäßig infrage zu stellen. All das ist nicht durch eine programmierte Maschine möglich. Führungskräfte müssen sensible Antennen dafür haben, was aktuell seitens der Mitarbeiter gebraucht wird oder wie die Stimmung im Team ist. Wie gesagt, die Rahmenbedingungen müssen stimmen, um Mitarbeiter zu halten. Was auch immer wichtiger ist, ist das Coachen und das Teilen von Kontakten. Führungskräfte sollten nicht mehr auf ihrem vollen Visitenkartenbuch sitzen bleiben, sondern ihr Netzwerk auch dem Team zugängig machen. Für diese Anforderungen, in Kombination mit dem sich ständig wandelnden Umfeld, sind Personen mit einer starken Resilienz notwendig.

Inwiefern?

Wir finden in der Auswahl von digitalen Führungskräften immer wieder Menschen interessant, die sich mal selbstständig gemacht haben. Auch dann, wenn sie mit dieser Selbstständigkeit gescheitert sind! Wir finden sie dann sogar noch spannender, weil wir davon ausgehen, dass sie daraus gelernt haben und mit diesen Erkenntnissen wieder aufgestanden sind und weitergemacht haben. Das ist genau das, was die Unternehmen brauchen: Den Mut, etwas anzugehen, auch scheitern zu können, wieder aufzustehen und weiterzumachen. Das bekannteste und meist benannte Beispiel ist Steve Jobs. Er hat immer weitergemacht, gegen alle Widerstände, auch im eigenen Unternehmen, und hat dann schlussendlich die heute so begehrten Produkte geschaffen, an die viele vorher nicht geglaubt haben. Er hatte diese Resilienz, den Mut und den Willen. Vielleicht hatte er nicht die Empathie und die gewinnende empathische Art, Beziehungen aufzubauen. Ein Ideal ist natürlich die Kombination aus beidem.

Das mit dem Scheitern ist ein ganz interessanter Punkt, weil es gerade in Deutschland oft noch als Makel wahrgenommen wird. Da läuft also gerade ein großer Umdenkungsprozess?

Genau. Zu scheitern, wird hier in Deutschland – anders als z. B. in den USA – noch gar nicht gerne gesehen. Aber zum Scheitern zu stehen und vielmehr den Lerneffekt in den Mittelpunkt zu stellen, gehört zum digitalen Mindset, das wir suchen. Es geht heute darum, den Kunden und danach das Team in den Mittelpunkt zu stellen – weniger sich und die eigene Karriere im Fokus zu haben. Wer so handelt, hat natürlich mit einem tollen Produkt und einem erfolgreichen Team auch Erfolg bzw. die entsprechende Karrieremöglichkeit.

Sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellen, Empathie, Beziehungen aufbauen und pflegen: Das sind ja schon auch Eigenschaften, die – etwas klischeehaft gedacht – eher Frauen zugeschrieben werden. Sind Frauen die besseren Führungskräfte?

Das ist, wie Sie schon sagen, natürlich sehr stereotypisch gedacht. Aber Sie haben Recht mit dieser Frage, sie liegt einfach auf der Hand. Es gibt sogar eine Studie von 2017 aus Norwegen, in der Forscher herausgefunden haben, dass Frauen die besseren Führungskräfte sind. Die Frauen haben in den Bereichen Kommunikation, Sozialverträglichkeit, Pflichtbewusstsein und sogar Offenheit für Neues besser abgeschnitten als die männlichen Teilnehmer. Wobei die männlichen Teilnehmer auch ihre Stärke hatten: Sie sind in der Stressbewältigung besser. Und diese ist ebenso entscheidend für ein VUCA-geprägtes Umfeld mit seiner Dynamik und den mit ihr einhergehenden Veränderungen. Von daher würde ich sagen: Es ist tatsächlich auch hier wieder die Persönlichkeit entscheidend. Wer die beschriebenen Eigenschaften mitbringt, der führt meist auch gut, und das ist meiner Ansicht nach nicht vom Geschlecht abhängig. Vielleicht verfügt ein Mann über bestimmte den Frauen stereotypisch zugeordnete Eigenschaften und konnte diese bisher nicht zeigen, weil er stets die Ellenbogen ausfahren und sich kämpferisch zeigen musste. Einfach, weil es bisher einfach nicht anders von ihm erwartet wurde. Natürlich ist es meiner Meinung nach grundsätzlich aber gut, wenn mehr Frauen in Führungspositionen kommen, weil dann auch mehr Netzwerke unter Frauen entstehen.

Die spannende Frage ist ja nun, wie man diese Persönlichkeiten auf dem Markt findet?

Ich glaube, dass die Personaler in den Unternehmen derzeit genau vor dieser Frage stehen und sich wie das ganze Unternehmen in einer Transformation befinden. Die Personalberatung, in der ich tätig bin, beschäftigt sich bereits seit 20 Jahren mit der Digitalwirtschaft und der Besetzung digitaler Führungs- und Fachpositionen. Deshalb ist bei uns ein “Grundverständnis” zum Thema “digital” vorhanden: Wir nennen das “Core digital”. Wie “digital” jemand denkt und handelt, können Sie natürlich auch anhand der Unterlagen, etwa durch dort genannte digitale Projekte, sehen. Oder welche Erfahrungen mit digitalen Tools vorhanden sind. Ich denke aber, dass das Gespräch definitiv am wichtigsten ist, um so viel wie möglich über eine Person zu erfahren und sie in ihrer Persönlichkeit erfassen zu können.

Es ist eben doch immer noch der Mensch, der denkt.

Ja, tatsächlich, es ist so, und dieser bleibt immer noch entscheidend – und das ist ein beruhigender Gedanke.

Wenn man das Ganze so betrachtet: Ist der Begriff “Führungskraft” überhaupt noch zeitgemäß?

Nein, eigentlich nicht. Wir gehen da mehr in die “Leader”-Richtung. Aber wie übersetzen Sie das jetzt ganz konkret? Die Führungskraft hat schließlich ganz viele Hüte auf: Einerseits der “Feel-Good-Manager” und Coach bzw. Personalentwickler und andererseits der Entscheider im Daily Business, der Stratege, Dirigent und vor allem: das Vorbild. Ja, ich glaube, das ist wirklich ein veralteter Begriff. Aber es ist auch wirklich schwer, einen neuen zu benennen. “Leadership” geht in die richtige Richtung, weil es eben auch dieses Visionäre und Begeisternde beschreibt.

Wie auch immer man sie zukünftig nennt: Die Führungskraft wird auch in Zukunft noch gebraucht?

Ja, auf jeden Fall. Es muss immer jemanden geben, der andere mitreißt, der sie orchestriert. Es gibt zwar schon demokratische Unternehmensformen, in denen ganz auf Führungskräfte verzichtet wird. Aber trotzdem muss es ja immer den Einen oder die Eine geben, der/die richtungsweisend ist und das letzte Wort – auch wenn es im Sinne aller ist – spricht. Egal, wie man diese Person dann bezeichnet.

Das Interview erschien am 03.01.2019 im AKAD University Blog.